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Warum tastet mein Arzt mich ab? Wann Abtasten sinnvoll ist

Screenings, Röntgen, Ultraschall, Biopsien – die moderne Medizin ist weit fortgeschritten. Eine normale körperliche Untersuchung, bei der der Arzt oder die Ärztin unseren Körper betrachtet, abtastet, abklopft und abhört, kommt einem da fast schon banal vor. Dabei gibt die klinische Untersuchung wichtige Hinweise, wonach bei modernen bildgebenden Verfahren überhaupt gesucht werden soll. Und manchmal ist der Tastsinn des erfahrenen Arztes jedem Screening sogar überlegen.

Als René Laennec 35 Jahre alt war, konsultierte ihn eine junge Frau, die unter allgemeinen Symptomen eines kranken Herzens litt. Der Arzt zögerte bei der Untersuchung. Das direkte Auflegen seines Ohres auf den Busen schien ihm “unschicklich”. Er dachte eine Zeitlang über das Problem nach und erinnerte sich an Kinder, die er beim Spielen beobachtet hatte. Eines hielt sich dabei einen Stock ans Ohr, ein anderes kratzte am anderen Ende, so dass eine Geräuschübertragung möglich wurde. Laennec erfand das Stethoskop und vermied so nicht nur die Verlegenheit bei der Herzuntersuchung von Frauen, sondern optimierte damit auch die Methode des normalen Abhörens, in der Medizin auch Auskultation genannt.

Das war im Jahre 1816 und mittlerweile – so könnte man meinen – entsprechen derart traditionelle Methoden der klinischen Untersuchung nicht mehr dem Stand der Forschung in der Medizin. Screenings, Röntgen, Ultraschall und Blutuntersuchungen auf chemische Veränderungen machen den Patienten doch scheinbar durchleuchtbar, ohne dass dafür das geschulte Auge eines Arztes, dessen Tastsinn und Gehör noch von Nöten sei.

Natürlich hat sich die Medizin seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stark gewandelt, tatsächlich spielen Computer, Chemie und Maschinen eine große Rolle beim Erkennen und Bekämpfen von Krankheiten. Die klassische klinische Untersuchung durch den behandelnden Hausarzt und Internisten hat an Wichtigkeit aber kaum etwas eingebüßt, wie Wolfgang Abenhardt, Münchner Onkologe mit langjähriger Erfahrung im Abtasten, also Palpieren des Patienten, betont.

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Wie läuft eine klinische Untersuchung ab?

  • Inspektion: Betrachten
  • Palpation: Abtasten
  • Perkussion: Abklopfen
  • Auskultation: Abhören (in der Regel mit dem Stethoskop)
  • Gegebenenfalls erfolgt noch eine Funktionsprüfung

Was kann der Arzt beim Abtasten und Abhören feststellen?

Zwei Drittel aller Diagnosen, so ist Abenhardt überzeugt, kann ein Arzt ohne den Einsatz teurer apparativer Technik stellen. Das ist auch ein Segen für die Volkswirtschaft. Denn eine Hausarztanamnese mit Ansehen, Abtasten, Abhören und Abklopfen werde mit 30 Euro vergütet und sei damit „die günstigste Untersuchung überhaupt“.

Eine ganze Reihe von Erkrankungen seien auf diese Art und Weise diagnostizierbar: Asthma und Herzveränderungen, aber auch Erkrankungen des Magens, des Darms oder der Lunge sind abhörbar, eine bösartige Veränderung der Lymphknoten, Veränderungen der Organe wie Milz, Leber und Nieren aber auch Wasseransammlungen, eine vergrößerte Prostata , Knoten in der Brust  oder Melanome kann der erfahrene Arzt mit seinen Händen ertasten.

Was macht einen guten Arzt aus?

Natürlich könne die moderne Medizin viele Krankheiten präziser und schneller erkennen. Auf die erste Spur müsse der Arzt aber immer noch durch seine Sinne gelangen. „Das ist ein bisschen wie bei einem Detektiv, der sich den Tatort ansieht. Von diesem ersten Eindruck hängt ab, wie die weiteren Ermittlungen aussehen sollen“, sagt Abenhardt, der 32 Jahre in einer onkologischen Praxis arbeitete. Schließlich müsse ein Mediziner trotz noch so feiner technischer Diagnosewerkzeuge wie MRT, Biopsie oder ausgefeilter Laboruntersuchungen erst einmal wissen, wonach überhaupt zu suchen sei.

„Der Tastsinn bietet eine grobe Vorabinformation. Der Arzt macht sich ein Bild von dem Patienten“, sagt Abenhardt. Da Körper individuell sehr verschieden sind, sei es enorm wichtig, wenn ein Hausarzt seine Patienten gut kenne. „Wenn ich einen Patienten abtaste, dann erinnere ich mich an ihn. Das ist, als würde ich immer wieder dieselbe Skulptur abtasten und plötzlich merken: Da hat sich etwas verändert“, sagt Abenhardt. Bauten Ärzte ihre Expertise hauptsächlich auf bildgebende Verfahren und Laborwerte auf, gehe viel anatomisches Wissen verloren. „Meines Erachtens ist es ein Kunstfehler, auf diese überlieferte körperliche Untersuchung zu verzichten“, sagt Abenhardt.

Warum tastet der Arzt mich ab?

Und manchmal sei die Ganzkörperuntersuchung, also die Diagnose mittels Gespräch, Ansehen, Abtasten und Abhören, sogar einer technisch feinen Untersuchung überlegen. „Nehmen Sie zum Beispiel die Computertomographie. Das erstellt Schnittbilder. Ein ovaler Lymphknoten kann einem dabei durch die Lappen gehen, weil seine Scheiben je nach Lage des Querschnitts unauffällig aussehen.“

Zudem könne ein CT nichts über die Konsistenz und Beweglichkeit eines Knotens aussagen. Dem abtastenden Arzt erschließen sich darüber aber eine ganze Reihe an wichtigen Hinweisen: „Ist der Knoten verschieb- und abgrenzbar, deutet viel auf Gutartigkeit hin. Oft liegt einfach eine Fettgeschwulst vor. Eine harte Schwellung ist oft Zeichen für eine stauungsbedingte chronische Wasseransammlung, wohingegen eine weiche Ansammlung eher auf Nieren- oder Herzmuskelschwäche schließen lässt“, sagt Abenhardt.

Beim Abtasten der Leber ist der Unterschied zwischen weich und hart entscheidend: Weich deutet laut Abenhardt auf eine Verfettung oder akute Entzündung hin. Ist die Vergrößerung hart, liegt eher die Diagnose Tumor oder Zirrhose nahe. Auch die Temperatur gebe wichtige Hinweise. „Weiche, warme Gelenkveränderungen haben ihren Grund häufig in einer rheumatischen Erkrankung, während eine kühle, teigige Schwellung eher Arthrose anzeigt.“

Und auch wenn nach der ersten Anamnese durch den Arzt weitere bildgebende Verfahren die Diagnose verfeinern sollen, sei der Tastsinn immer noch gefragt. „Wenn wir beispielsweise wissen müssen, welcher Lymphknoten am ehesten geeignet ist für die Biopsie, dann kommen wieder unsere erfahrenen Hände ins Spiel“, sagt Abenhardt.

In einigen wenigen Fällen ist das Palpieren in der Medizin allerdings auch in die Kritik geraten. So zweifelt eine Studie der United States Preventive Services Task Force den Nutzen der gynäkologischen Tastuntersuchung zur Krebsfrüherkennung an. In den untersuchten Fällen bestätigte sich der Verdacht auf ein Ovarialkarzinom in nur einem von 243 ertasteten Befunden. Der Unterleib wird dennoch weiterhin abgetastet. Gynäkologenverbände betrachten die Untersuchung als festen Bestandteil der „Well-Woman“-Empfehlung.

Kann der Arzt mir Krankheiten ansehen?

Manchmal, so sagt Abenhardt, genüge einem geübten Arzt schon ein Blick und er komme einer möglichen Krankheit seines Patienten auf die Spur. Sei die Haut beispielsweise auffallend gelbstichiger als bei der vergangenen Konsultation, könne eine Gallenstauung vorliegen, eine Herzinsuffizienz mache sich häufig durch Lidödeme (flüssigkeitsbedingte Schwellung der Augenlider) und ein geschwollenes Gesicht bemerkbar. „Ich würde von mir behaupten, dass ich meinen Patienten auch ansehe, wenn sie ein fortgeschrittenes Magenkarzinom mit sich herumschleppen“, sagt Abenhardt. Hinweise seien: Eingefallenes Nasendreieck, eingefallene Augenhöhlen, leidender Eindruck insgesamt.

Schon Hippokrates leitete seine Schüler an, bei der Untersuchung alle fünf Sinne einzusetzen. Bevor die moderne Medizin bildgebende Verfahren nutzen konnte, kam deshalb tatsächlich auch das Schmecken und Riechen zum Einsatz. „Ärzte im Mittelalter konnten so durch Nippen am Urin herausfinden, ob der Patient beispielsweise unter einer Zuckerkrankheit litt“, sagt Abenhardt. Einfache Labortests lieferten heute genaue Angaben über versteckt enthaltene Bakterien, Leukozyten, Zucker oder Eiweiße. Das Urintrinken bleibe heutigen Medizinern so Gott sei Dank erspart.

Hier informiert sich Wolfgang Abenhardt: https://www.brand-health.de/

Claudia Lehnen

Autorin

Claudia Lehnen wollte als Jugendliche Ärztin werden, entschied sich dann aber dafür, lieber über Medizin und Menschen und ihre Krankheits- und Genesungsgeschichten zu berichten. Die in Köln niedergelassene Journalistin, die im Tageszeitungs-Journalismus zu Hause ist, ist unter anderem auf das Themengebiet Gesundheit spezialisiert.