Alkohol in der Schwangerschaft
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Ein Viertel der Schwangeren trinkt Alkohol – ein Risiko für die Gesundheit des Kindes

Ungefähr zwei Prozent aller Kinder in Deutschland kommen mit einer Form von FASD auf die Welt. „Damit ist FASD die häufigste angeborene chronische Erkrankung“, sagt Professorin Mirjam Landgraf, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Diplom-Psychologin vom Klinikum der Universität München. FASD steht für Fetale Alkoholspektrumstörungen. Kinder mit dieser Krankheit haben Mütter, die in der Schwangerschaft Alkohol konsumiert haben.

„Es gibt immer noch ein großes Unwissen in der Bevölkerung.“ sagt Mirjam Landgraf, die zu den führenden Expertinnen für FASD in Deutschland zählt. Aber nicht nur dort: „Viele Gynäkologinnen und Gynäkologen klären nicht richtig über Alkoholkonsum in der Schwangerschaft auf. Manche sprechen das Thema gar nicht an, andere raten den Frauen nicht so viel zu trinken“, so Landgrafs Erfahrungen aus dem beruflichen und privaten Umfeld.   

„Das Thema ‚Prävention von Alkoholkonsum stellt einen wichtigen Aspekt in der Schwangerenvorsorge dar, der von Gynäkologinnen und Gynäkologen sehr ernst genommen wird und regelmäßig Teil von Fortbildungen ist“, entgegnet Dr. Cornelia Hösemann, Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Frauenärzte e.V. „Frauenärztinnen und Frauenärzte wissen um ihre zentrale Rolle im persönlichen Kontakt mit schwangeren Frauen und um die Notwendigkeit, auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und Schwangere auf dem Weg hin zu einer konsumfreien Schwangerschaft zu unterstützen.“ 

Nichtsdestotrotz: „Etwa ein Viertel der Frauen in Deutschland konsumieren während der Schwangerschaft Alkohol“, sagt Professorin Mirjam Landgraf. Die erste weltweite Studie zum Trinkverhalten während der Schwangerschaft des „Centre of Addiction and Mental Health“ in Toronto kam 2017 zu folgendem Ergebnis: Fast jede zehnte Frau weltweit trinkt während der Schwangerschaft, in Deutschland sind es durchschnittlich 26 von 100 Frauen.

Wie entsteht FASD?

Trinkt eine Schwangere Alkohol, gelangt dieser in das Blut der Frau – und über die Plazenta ungefiltert in den kindlichen Blutkreislauf. „Alkohol tötet Zellen ab, verursacht Gefäßschäden und behindert die Entwicklung der Organe“, erklärt Landgraf. „Das heißt: Der Alkohol kann alle Zellen und Organe des Kindes schädigen, aber ganz besonders vulnerabel ist das sich entwickelnde Gehirn.“ Wichtig zu wissen: Das Gehirn entwickelt sich während der kompletten Schwangerschaft. 

Landgraf fasst vereinfacht zusammen, was in den einzelnen Schwangerschaftsdritteln passiert: „Am Anfang teilen sich die Zellen. Kommt Alkohol ins Spiel, hat das Kind später weniger Zellen.“ Im zweiten Schwangerschaftsdrittel wandern die Nervenzellen an den Ort, wo sie ihre Funktion ausführen sollen. „Durch Alkohol werden die Nervenzellen auf ihrer Wanderung behindert. Die Folge ist, dass die Zellen ihre Funktion später nicht richtig ausführen können. Außerdem kann es zu Epilepsien bei ‚liegen gebliebenen‘ Zellen kommen.“ 

Im letzten Drittel werden die Nervenzellen und die verschiedenen Areale des Gehirns miteinander vernetzt – auch das hemmt der Alkohol. Mirjam Landgraf erzählt, wie sie Kindern ihre Krankheit erklärt: „Ich sage: Stellt euch das Gehirn als Straßennetz vor. Ihr habt weniger Kreuzungen im Gehirn als andere Kinder. Und ihr habt auch keine asphaltierten Straßen und Autobahnen, sondern Schotterwege. Und Fahrradfahren ist auf Schotter viel anstrengender als auf Asphalt.“   

„Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie viel Alkohol FASD auslöst.”
Mirjam Landgraf

Wie viel Alkohol ist zu viel?

Der Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft kann also zu FASD beim Kind führen. Doch was bedeutet eigentlich Konsum? Geht es da um tägliches Trinken – oder um ein Gläschen Sekt zu Silvester? „Das Problem ist“, sagt Mirjam Landgraf, „dass wir nicht wissen, wie viel Alkohol FASD auslöst.“ Was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen ist: Wer in allen Schwangerschaftsdritteln Alkohol trinkt, dessen Kind hat ein fünffach erhöhtes Risiko, FASD zu bekommen.

Doch die Frage nach der Menge sei falsch, findet die Expertin. Sie plädiert dafür, die schwangeren Frauen deutlicher aufzuklären und ihnen zu sagen: Wenn Sie in der Schwangerschaft Alkohol trinken, gehen Sie das Risiko ein, dass Ihr Kind eine lebenslange Behinderung hat. „So bringt man die Eltern in eine Situation, in der sie selbst entscheiden können, ob sie dieses Risiko eingehen wollen. So eine Entscheidung selbst zu treffen ist psychologisch gesehen wirksamer, als vom Arzt etwas verboten zu bekommen.“

Aufklaerung in der Schwangerschaft

Gleichzeitig warnt Mirjam Landgraf davor, die schwangeren Frauen zu stigmatisieren, ihnen die Schuld zuzuweisen. „Alkohol spielt eine Sonderrolle in unserer Gesellschaft. Wer nicht trinkt, muss sich immer rechtfertigen. Das gibt es bei keiner anderen Droge.“ Die Expertin weist darauf hin, dass viele der Schwangeren, die Alkohol konsumieren, in schwierigen Situationen sind, ungewollt schwanger wurden, psychische Probleme haben, in einer unsicheren Partnerschaft leben. 

Es gebe sehr vereinzelt auch Frauen, die versuchten, ihr Kind durch Alkoholkonsum abzutreiben – anstatt die Abtreibung von einem Arzt durchführen zu lassen. Doch davor warnt Landgraf ganz eindringlich: „Ich weiß von einer Mutter, die eine Flasche Schnaps und einen Kasten Bier täglich getrunken hat – und deren Kind mit einer schweren Behinderung überlebt hat.“

Und wenn man noch gar nicht weiß, dass man schwanger ist?

Doch was ist, wenn eine Frau noch gar nicht wusste, dass sie schwanger ist? Wenn sie getrunken hat und sich nach dem positiven Test große Vorwürfe macht? Ein Blick in die Zahlen kann ein wenig beruhigen: Schließlich sind „nur“ zwei Prozent der Kinder betroffen, während etwa 25 Prozent der Schwangeren trinken. 

Landgraf ergänzt: „Nach Rücksprache mit den Embryologen gehe ich davon aus, dass der Fötus in den ersten zwölf Tagen noch nicht in Kontakt mit mütterlichem Blut kommt. Letztlich sind zwölf Tage aber sehr wenig, wenn man eigentlich erst nach vier Wochen weiß, dass man schwanger ist.“ 

Vor allem, wenn man dazurechnet, dass ungefähr die Hälfte aller Schwangerschaften ungeplant ist – und der Test vielleicht erst nach sechs Wochen gemacht wird. Oder nach Monaten. Denn: „Einige Schwangere haben in den ersten Monaten Zwischenblutungen und führen das auf eine Unregelmäßigkeit der Periode zurück.“ In sehr seltenen Fällen gebe es auch Frauen, die bis zur Geburt gar nicht wussten, dass sie schwanger sind. 

Landgraf plädiert für ein Gespräch mit den Müttern auf Augenhöhe: „Ich sage ihnen, dass sie nicht schuld sind, sondern dass Alkohol ein gesellschaftliches Problem ist. Wenn Frauen noch nicht wissen, dass sie schwanger sind, warum sollten sie dann ihr Verhalten ändern?!“ 

Wie wird FASD überhaupt diagnostiziert?

FASD hat drei Unterformen: das Fetale Alkoholsyndrom, das partielle Fetale Alkoholsyndrom und die alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung. Nur das Fetale Alkoholsyndrom könne man schon in den ersten Lebenstagen feststellen, erklärt Mirjam Landgraf. „Bei dieser Form kommen die Kinder oft zu leicht auf die Welt, der Kopf ist zu klein. Außerdem gibt es typische Auffälligkeiten im Gesicht: kurze Lidspalten, eine sehr schmale Oberlippe und ein verstrichenes Philtrum.“ Damit ist gemeint, dass die vertikale Rinne zwischen Nase und Oberlippe ganz flach ist. 

Eine frühe Diagnose sei aber sehr selten, sagt Landgraf, meist zeigten die Kinder als Babys oder Kleinkinder Entwicklungsstörungen im motorischen oder sprachlichen Bereich oder hätten große Probleme, sich selbst zu regulieren. Sie könnten keinen Schlafrhythmus finden, würden viel schreien, schlecht essen, hätten eine geringe Aufmerksamkeitsspanne, bräuchten eine 1:1-Betreuung.

„Bei Kindern mit FASD ist die Impulshaftigkeit so ausgeprägt, dass es oft zu Zerstörungen oder Verletzungen kommt. ”
Mirjam Landgraf

Aber treffen solche Aspekte nicht irgendwie auf alle Babys und Kleinkinder zu? „Das Verhalten übersteigt ein adäquates Maß“, sagt Mirjam Landgraf. „Dass ein dreijähriges Kind Nein und Ich will sagt, ist normal. Aber mit Messern zu werfen, ist nicht normal. Denn auch ein Dreijähriger sollte seine Impulse in einem gewissen Maß kontrollieren können. Bei Kindern mit FASD ist die Impulshaftigkeit so ausgeprägt, dass es oft zu Zerstörungen oder Verletzungen kommt.“

Die Kinder seien extrem herausfordernd, die Eltern überfordert, da die meisten üblichen Erziehungstechniken nicht funktionierten. „Dass eine Störung vorliegt, wird auf jeden Fall erkannt“, glaubt Landgraf. „Manchmal werden die Kinder aber fehldiagnostiziert, etwa mit ADHS oder Autismus.“ Liegt ein Verdacht vor, müsse der Kinderarzt das Kind überweisen, entweder in ein Sozialpädiatrisches Zentrum oder in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie mit FASD-Erfahrung. 

überforderte Eltern

Wie sind Kinder mit FASD?

Die Kinder haben aber nicht nur Probleme in der Entwicklung, im Verhalten und in der Regulation ihrer Gefühle, sondern auch in „exekutiven Funktionen“. Es fällt ihnen also schwer, Dinge zu planen. Sie bräuchten einen extrem geregelten Alltag. 

Mirjam Landgraf erläutert das am Beispiel des Anziehens: Kinder mit FASD könnten sich oft bis zum Jugendalter nicht in der richtigen Reihenfolge anziehen – also erst die Unterhose, dann die Jeans. Manche müsste man daran erinnern, einmal die Woche duschen zu gehen. Andererseits seien die IQ-Tests sehr häufig gut, viele könnten sich eloquent ausdrücken. 

„Dadurch, dass das Gehirn geschädigt ist, müssen Menschen mit FASD sich wahnsinnig anstrengen, um simpelste Alltagsaufgaben erledigen zu können. ”

Aber: Die Kinder mit FASD haben auch alle individuelle Stärken. Landgraf erzählt von einem Patienten, der auf Landesliga Volleyball spielt, ein anderer kann den S-Bahn-Plan von München auswendig, ein weiterer kümmert sich rührend um seine kleinere Schwester mit Körperbehinderung. 

„Was mich an diesen Kindern am meisten beeindruckt, ist, wie viel Mühe sie sich geben. Sie sind immer bereit, sich anzustrengen. Das Frustrierende ist nur, dass die Anstrengung oft nicht richtig fruchtet. Dadurch, dass das Gehirn geschädigt ist, müssen Menschen mit FASD sich wahnsinnig anstrengen, um simpelste Alltagsaufgaben erledigen zu können.“ 

Was brauchen Menschen mit FASD?

Drei Faktoren können die Krankheit abfedern, erklärt Mirjam Landgraf: Erstens die frühe Diagnose und damit einhergehende Therapien von klein auf. Zweitens: Gewaltfreiheit in der Kindheit. Drittens: Ein konstantes, förderndes Umfeld. „Kinder mit FASD kommen aber oft aus instabilen Familien, viele wachsen in Pflegefamilien auf. Ich habe hier manchmal Zweijährige, die ihren siebten Unterbringungswechsel hinter sich haben“, erzählt Landgraf. 

„Selbst für ein gesundes Gehirn ist das schwierig zu verarbeiten.“ Es gehe darum, Eltern oder Pflegeeltern UND Kinder frühzeitig über die Krankheit und ihre Besonderheiten aufzuklären und sie beispielsweise anzuleiten mit Gefühlsausbrüchen umzugehen. 

„FASD ist eine sehr komplexe Erkrankung, die sehr große Auswirkungen auf den Alltag hat. Deswegen brauchen diese Menschen lebenslang Unterstützung“, fasst Mirjam Landgraf zusammen. Mit dieser Hilfe können einige Kinder mit FASD auch auf eine Regelschule gehen und den Abschluss schaffen. Sie können teilweise eine Berufsausbildung machen und mit Unterstützung sogar alleine wohnen.

„Aber es gibt leider immer noch viel zu wenige Einrichtungen für Jugendliche und Erwachsene, die auf FASD spezialisiert sind. Deswegen passiert es häufig, dass die Menschen obdachlos oder drogenabhängig werden, in die Prostitution gehen oder im Gefängnis landen. Die Prognose ist schlecht. Es müsste deutlich mehr Unterstützung geben.“ Unterstützung für eine Krankheit, die 2,8 Millionen Menschen in Europa betrifft. 

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Mirjam Landgraf

Expertin

Expertin für FASD 

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Dr. Cornelia Hösemann

Expertin

Vorstandsmitglied des Berufsverbands der Frauenärzte e.V.