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Gendermedizin: Frauen erkranken anders

Der „kleine Unterschied“ ist in der Medizin zuweilen ein ganz schön großer: Frauen leiden bei der gleichen Krankheit mitunter an völlig anderen Symptomen als Männer. Auch Medikamente wirken bei den Geschlechtern oft nicht in gleicher Weise. Problematisch ist das vor allem, weil diese Unterschiede noch immer wenig verstanden sind und zu selten in Studien untersucht werden. Ein Umdenken findet nur langsam statt. Gerade Frauen sollten daher, wenn sie krank sind, gut auf ihre körperlichen Reaktionen achten.

Frauen entwickeln oft andere Symptome als Männer

Ein Gefühl der Enge in der Brust oder auch Schmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen, Atemnot, Schweißausbrüche und Unruhe, die sich bis zur Panik steigern kann – bei solchen Symptomen würden vermutlich bei den allermeisten Menschen die Alarmglocken schrillen. Zu Recht, denn sie alle können Vorboten eines Herzinfarkts sein, der unverzüglich im Krankenhaus behandelt werden sollte.

Die Sache hat nur einen Haken: „Die geschilderten Beschwerden treten vor allem bei Männern auf“, sagt der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Professor Andreas Zeiher vom Institute of Cardiovascular Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei Frauen macht sich ein Herzinfarkt oft auf andere Weise bemerkbar: „Sie leiden zum Beispiel an unerklärlicher Müdigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen im Oberbauch oder im Rücken“, erläutert Zeiher.

Das ist der Grund, warum ein Herzinfarkt bei Frauen bis heute im Schnitt deutlich später erkannt und behandelt wird. Das fehlende Wissen hat oft tödliche Folgen: „Zwar erleiden Männer deutlich häufiger als Frauen einen Infarkt, doch im Verhältnis sterben die Frauen viel öfter daran“, sagt Zeiher.

Höheres Risiko, Long-Covid zu entwickeln

Inzwischen erkennen Mediziner jedoch immer klarer, dass nicht nur das weibliche Herz anders tickt als das männliche. „Die physiologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind viel größer, als die meisten Menschen denken“, sagt die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM), Privatdozentin Dr. Ute Seeland vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Deutlich wurde das zuletzt auch durch die Coronapandemie: Männer haben öfter als Frauen einen schweren Krankheitsverlauf und sterben fast doppelt so häufig an den Folgen der Erkrankung. Offenbar bekommt das weibliche Immunsystem zumindest die akute Infektion besser in den Griff.

Allerdings scheinen Frauen aktuellen Studien zufolge ein höheres Risiko als Männer zu haben, Long-Covid zu entwickeln. „Frauen erkranken anders als Männer und reagieren zudem auf Medikamente oder andere Therapien meist ganz unterschiedlich“, erklärt die Fachärztin für Innere Medizin und Dozentin für geschlechtersensible Medizin Seeland.

„Die ungleiche Verteilung der Geschlechtschromosomen hat zur Folge, dass die Körper der beiden Geschlechter nicht nur sichtbare, sondern auch viele unsichtbare Unterschiede aufweisen.”

Frauen reagieren anders auf Medikamente und Therapien

Gründe dafür gibt es viele. Zu finden sind sie nicht nur im Lebensstil, sondern auch in den Genen. Die ungleiche Verteilung der Geschlechtschromosomen – Frauen haben zwei X-Chromosomen, während Männer ein X- und ein Y-Chromosom aufweisen – hat zur Folge, dass die Körper der beiden Geschlechter nicht nur sichtbare, sondern auch viele unsichtbare Unterschiede aufweisen. Betroffen sind zum Beispiel:

  • das Herz-Kreislauf-System,
  • das Immunsystem,
  • das Hormonsystem,
  • der Stoffwechsel und die Verdauung sowie
  • die Fett-, Muskel- und Wasseranteile des Körpers.

Insbesondere der Stoffwechsel, die Verdauung und der Fettanteil entscheiden zum Beispiel maßgeblich darüber, wie schnell ein Medikament im Körper verarbeitet und auch wieder abgebaut wird.

Mediziner haben beispielsweise festgestellt, dass die Blutkonzentration des Wirkstoffs Duloxetin, der unter anderem gegen Depressionen und Angststörungen eingesetzt wird, trotz gleicher Dosis bei Frauen etwa doppelt so hoch werden kann wie bei Männern. Die Gefahr von Nebenwirkungen und einer schädlichen Überdosierung ist für Frauen daher deutlich größer. Im Beipackzettel des Medikaments ist davon allerdings nichts zu lesen.

Selbst bei gleicher Blutkonzentration wirken manche Arzneien, etwa Schmerzmittel, bei Frauen stärker als bei Männern. Zum Beispiel haben Frauen in ihrem Gehirn mehr Rezeptoren, an denen Opioide andocken können. Das hat unter anderem zur Folge, dass sie von dem Wirkstoff Nalbuphin eine geringere Dosis als Männer benötigen, um schmerzfrei zu sein. Eine Standarddosis Morphin führt bei ihnen öfter zu der unerwünschten Nebenwirkung, dass der Atemreflex unterdrückt wird.

Tipps (nicht nur) für den Arztbesuch

  • Fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt, wenn Sie ein neues Medikament oder eine andere Therapie erhalten sollen, ob und welche Erfahrungen es in der Anwendung bei Frauen gibt.
  • Sprechen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt in jedem Fall darauf an, wenn Ihnen die Wirkung eines Medikaments oder auch dessen Nebenwirkungen ungewöhnlich stark vorkommen.
  • Setzen Sie die Dosierung eines Medikaments, das Ihnen verordnet wurde, nie eigenmächtig herunter, sondern nur nach Rücksprache mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt.
  • Nehmen Sie die Botschaften Ihres Körpers ernst. Mit der Einstellung „Ach, das wird schon wieder…“ ist weder Ihnen noch anderen geholfen. Wenn Sie Beschwerden entwickeln, die Sie so bisher nicht kannten, rufen Sie in Ihrer Hausarztpraxis oder auch, zum Beispiel am Wochenende, den ärztlichen Notdienst an.
  • Verlassen Sie sich, wenn es um Ihre Gesundheit geht, nicht auf Internetforen. Dort kursiert viel Halbwissen, das Ihnen im Zweifelsfall gefährlich werden kann.

Neue Wirkstoffe werden zu selten an Frauen getestet

Brisant sind diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern auch deshalb, weil die Effekte der meisten Medikamente – seien sie erwünschter oder unerwünschter Natur – bei Frauen viel schlechter untersucht sind als bei Männern. Bevor ein neues Medikament auf den Markt kommen darf, muss es seine Wirkung und seine Sicherheit zwar zunächst in einer Reihe von Patientenstudien mit zunehmender Teilnehmerzahl unter Beweis stellen.

„Doch oft sind die Probanden dieser Zulassungsstudien überwiegend männlich“, sagt die DGesGM-Vorsitzende Seeland. „Und auch in späteren Studien ist die Verteilung der Geschlechter längst nicht immer der Krankheit, die es zu behandeln gilt, angepasst.“

„Laut Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA) liegt der Anteil der Probandinnen in frühen Studien der Phase 1 hierzulande derzeit nur zwischen 10 und 40 Prozent.”

Zwar verlangen die Zulassungsbehörden und auch das deutsche Gesetz, dass Medikamente und andere Therapien, die für Männer und Frauen bestimmt sind, auch an beiden Geschlechtern erprobt werden müssen. Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Probanden ist den Entwicklern jedoch weitgehend selbst überlassen.

Laut Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA) liegt der Anteil der Probandinnen in frühen Studien der Phase 1 hierzulande derzeit nur zwischen 10 und 40 Prozent. Erst in späteren Studien der Phasen 2 und 3 wird er größer, beträgt aber mitunter dennoch nur 30 Prozent.

Der Contergan-Skandal wirkt bis zum heutigen Tage nach

Die Bevorzugung männlicher Probanden hat zahlreiche Ursachen. Eine von ihnen ist offensichtlich: Frauen können anders als Männer schwanger werden. Oft lässt sich allein durch Tierversuche aber nicht ausschließen, dass ein Medikament die Entwicklung des ungeborenen Kindes stört.

Bekanntestes Beispiel hierfür ist der Wirkstoff Thalidomid, besser bekannt unter seinem Handelsnamen Contergan. Weil dieser vor allem in den 1950er Jahren schwere Fehlbildungen bei Ungeborenen verursachte, erteilte die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Jahr 1977 schließlich eine Anweisung, die gebärfähige Frauen lange Zeit von fast allen Medikamentenstudien ausschloss. Erkenntnisse, die man mit männlichen Probanden erzielte, wurden seither nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt auf Frauen einfach übertragen.

„Die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA erteilte im Jahr 1977 schließlich eine Anweisung, die gebärfähige Frauen lange Zeit von fast allen Medikamentenstudien ausschloss.”

Erst Anfang der 1990er Jahre setzte ein Umdenken ein. Noch immer ziehen viele Hersteller allerdings Männer als Teilnehmer für ihre Studien vor. Frauen einzubinden, gilt schlichtweg als komplizierter. Denn ihre Reaktionen auf Medikamente können sich hormonell bedingt verändern, sowohl im Laufe des weiblichen Zyklus als auch durch die Einnahme von Verhütungsmitteln oder mit Einsetzen der Wechseljahre.

Um gute Daten zu erhalten, müssen solche Aspekte mitberücksichtigt werden. Das aber bedeutet, dass mehr Teilnehmerinnen erforderlich sind – und das wiederum kostet mehr Geld. Vieles von dem, was in den Beipackzetteln steht, gilt daher nach wie vor überwiegend für Männer.

Von manchen medizinischen Eingriffen profitieren Frauen stärker

Gleichzeitig gibt es immer wieder neue Beispiele dafür, wie unterschiedlich Frauen und Männer nicht nur auf Medikamente, sondern auch auf andere therapeutische Verfahren reagieren. Erst kürzlich brachte zum Beispiel eine Studie ein erstaunliches Ergebnis zutage. Untersucht wurde das Überleben von Menschen, denen man aufgrund einer Aortenstenose – einer Erkrankung der linken Herzklappe – per Katheter eine künstliche Klappe eingesetzt hatte.

Frauen profitieren von dem Eingriff offenbar sehr viel stärker als Männer. Die Teilnehmerinnen der Studie lebten mit ihrer neuen Herzklappe im Schnitt noch deutlich länger, weit über das normale Maß hinaus, als die männlichen Probanden.

Warum das so ist, weiß man bislang nicht. „Möglicherweise bildet sich die krankhafte Vergrößerung des Herzmuskels in der linken Herzkammer, die man bei Frauen mit einer Aortenstenose häufiger als bei Männern beobachtet, aufgrund der durch den Eingriff verbesserten Pumpfunktion des Herzens wieder zurück“, vermutet der Frankfurter Kardiologe Zeiher. Auch das müsse künftig noch näher untersucht werden.

Gerade Frauen sollten auf die Botschaften ihres Körpers hören

Fakt ist: Männer und Frauen sollten medizinisch nicht länger über einen Kamm geschoren werden. Bis alle oder zumindest die meisten Unterschiede zwischen ihnen geklärt sind, wird jedoch sicherlich noch eine lange Zeit verstreichen. Bis dahin sollten gerade Frauen gut auf sich aufpassen und auf die Signale ihres Körpers hören – seien sie noch so leise.

Quellen

  • Interview mit Professor Andreas Zeiher, Institute of Cardiovascular Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) sowie Privatdozentin Dr. Ute Seeland vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM)

Dr. Ute Seeland

Expertin

Privatdozentin Dr. Ute Seeland vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin (DGesGM)

Prof. Andreas Zeiher

Experte

Kardiologe, Institute of Cardiovascular Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK)

Anke Brodmerkel

Autorin

Anke Brodmerkel hat Biologie und Chemie studiert und lange für die Berliner Zeitung als Medizinredakteurin gearbeitet. Sie lebt mit ihrer Familie nahe Flensburg und schreibt über alle Aspekte zum Thema Gesundheit – für Zeitungen, Magazine und Online-Portale. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie während eines zweijährigen Segeltörns durch Europa.