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„Mama-Phase“: Warum Kleinkinder so fixiert auf ihre Mütter sind

Es gibt Mütter, die gehen abends eine Runde um den Block spazieren. Nicht, weil sie frische Luft schnappen wollen – sondern, weil sich das Kind sonst nicht vom Vater ins Bett bringen lässt. Funktioniert nur, wenn die Mutter nicht da ist. Denn Mama soll am liebsten alles machen: Brot schmieren, Zähne putzen, anziehen, vorlesen, trösten. Abends ins Bett bringen, morgens aufstehen. Auch in Familien, in denen die Eltern sich die Betreuung gleichberechtigt aufteilen. Oder besser gesagt: aufteilen wollen. Eine Psychologin gibt Elterntipps.  

Da drängt sich die Frage auf: Haben die Leute vielleicht doch recht, die behaupten, das Kind gehöre ausschließlich zur Mutter? „Nein“, sagt Fabienne Becker-Stoll. „Die Stunde der Väter kommt einfach später.“ Die Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz in Bayern erklärt, warum die meisten Kleinkinder so sehr auf die Mutter fixiert sind, wie Eltern damit umgehen können und warum Väter sich davon nicht irritieren lassen sollten.

„Die Stunde der Väter kommt einfach später.”

Warum ist Mama die Nummer eins?

Um diese Frage zu beantworten, muss man verstehen, wie Kinder eine Bindung aufbauen. In den ersten drei Lebensmonaten lasse sich ein Baby von jedem trösten und versorgen, sagt Becker-Stoll. Frei nach dem Motto: Hauptsache, irgendwer kümmert sich und ich überlebe. „Trotzdem erkennt der Säugling die Mutter direkt nach der Geburt an ihrem Geruch und ihrer Stimme – das ist also eine ganz tiefe, psychologische Verbindung.“ 

„Der Säugling erkennt die Mutter an ihrem Geruch und ihrer Stimme – das ist also eine ganz tiefe Verbindung.”

Innerhalb des ersten Lebensjahres entwickelt das Baby eine Beziehung zu einer Person, der „Hauptbindungsperson“, wie die Forschung sie nennt. „Das Baby braucht diese Person in Stresssituationen – bei Hunger, Durst, Gefahr, Angst – und zwar so schnell wie möglich und am besten mit Körperkontakt“, sagt Becker-Stoll. 

Die Expertin erläutert das anhand eines Beispiels: Ein Orang-Utan-Baby erkundet einen Ast. Es sieht einen Leoparden, rennt instinktiv zur Mutter und klammert sich in deren Fell fest. Denn das ist die sicherste Möglichkeit zu überleben. „Würde das Orang-Utan-Baby erstarren und angreifen oder fliehen, hätte es keine Chance gegen den Leoparden“, so Becker-Stoll. Und unsere menschlichen Gehirne sind eben noch im Säugetier-Modus programmiert: Instinkte, die sich über Millionen von Jahren evolutionär entwickelt haben, sichern unser Überleben und das unserer Art.

Muss die Hauptbindungsperson die Mutter sein?

Doch das erklärt noch nicht, warum das Orang-Utan-Baby ausgerechnet zur Mutter läuft. Könnte es nicht auch zum Vater laufen? „Wer sich zur Hauptbindungsperson entwickelt, hat nichts mit Geschlecht oder Blutsverwandtschaft zu tun“, sagt Fabienne Becker-Stoll. 

„Wer sich zur Hauptbindungsperson entwickelt, hat nichts mit Geschlecht oder Blutsverwandtschaft zu tun”

Kinder, die von Geburt an von Nannys aufgezogen werden, binden sich an das Kindermädchen, andere an die Oma. „Entscheidend ist, wer sich im ersten Lebensjahr am meisten um das Kind kümmert“, sagt die Psychologin. Und das ist in unserer Gesellschaft fast immer noch die Mutter: Sie nimmt das erste Jahr Elternzeit, stillt, wickelt, trägt das Kind. 

Das belegen auch aktuelle Zahlen: Laut dem Statistischen Bundesamt beanspruchte im Jahr 2024 nur ein Viertel der Väter Elterngeld, nämlich 25,8 Prozent. In den Jahren zuvor war der Anteil leicht, aber kontinuierlich angestiegen, nun ging er erstmals um 0,4 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr zurück.

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„In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wie wir sie gerade wieder erleben, sinkt der Anteil der Väter, die Elternzeit nehmen“, weiß Becker-Stoll. Auch die Bezugsdauer unterscheidet sich deutlich: Während Mütter im vergangenen Jahr planten, durchschnittlich 14,8 Monate Elterngeld zu beziehen, taten Väter dies nur für 3,8 Monate. 

„In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wie wir sie gerade wieder erleben, sinkt der Anteil der Väter, die Elternzeit nehmen”
Fabienne Becker-Stoll

Wie sieht es in gleichberechtigen Beziehungen aus?

Doch selbst in den wenigen gleichberechtigten Beziehungen, in denen Mutter und Vater sich Elternzeit und Betreuung komplett aufteilen, hat die Mutter meist noch einen kleinen Vorsprung – vor allem, wenn sie stillt. „Bindung ist hierarchisch strukturiert“, erklärt Becker-Stoll. „Wenn der Vater sich viel kümmert, ist er vielleicht nicht die Nummer zwei, sondern die Nummer 1,1. Aber es braucht eine Hauptbindungsperson.“

Denn das Orang-Utan-Baby hat keine Zeit zu überlegen, ob es nun lieber zu Mama oder zu Papa rennen soll, diese Entscheidung muss schon feststehen, bevor eine Gefahrensituation auftritt. Nichtsdestotrotz sei es in Einzelfällen möglich, dass der Vater die Rolle der Mutter übernehmen könne. Becker-Stoll erzählt von einer Mutter, Chefärztin, die schon kurz nach der Geburt wieder Vollzeit arbeitete, während der Vater zu Hause blieb. In dieser Konstellation baute das Baby die Hauptbindung zum Vater auf.  

Worum geht es bei der Bindung noch?

Doch es geht nicht nur um quantitative Faktoren, also die Zeit des Kümmerns, sondern auch um qualitative Aspekte. Es scheint so zu sein, dass die Art der Beziehung, die ein Kind zu seiner Mutter oder zu seinem Vater aufbaut, unterschiedlich ist. „Die Feinfühligkeit der Väter liegt im Spiel, im Entdecken und Neues ausprobieren, während die Feinfühligkeit der Mutter im Trösten, Verpflegen und Versorgen besonders groß ist“, erklärt Fabienne Becker-Stoll. 

„Feinfühligkeit“ ist ein Begriff aus der Bindungstheorie. Er bezeichnet die Reaktion einer Bezugsperson, die die frühkindliche Bindung so beeinflusst, dass das Kind eine sichere Bindung zu dieser Bezugsperson entwickelt. Dass es also lernt, auf diese Bezugsperson zu vertrauen – insbesondere dann, wenn es Unterstützung und Sicherheit braucht beim Erkunden und Ausprobieren oder bei Stress und Unwohlsein. 

Heißt verkürzt gesagt: Die Bindung zum Vater wird dann sicher, wenn er das Kind beim Spiel feinfühlig unterstützt, Neues auszuprobieren, die Bindung zur Mutter wird sicher, wenn sie feinfühlig auf die Bedürfnisse nach Trost und Sicherheit reagiert. 

Das belegt auch ein Experiment des Psychologen Univ.-Prof. Dr. Peter Zimmermann der Uni Wuppertal aus dem Jahr 2022. Er positionierte eine Familie mit Kleinkind in einem relativ großen, neutralen Raum: In der Mitte ein Teppich, auf dem das Kind saß, ihm gegenüber ein Fremder. Der Vater saß auf der einen Seite des Teppichs, die Mutter auf der anderen. Die Anwesenheit des Fremden im Raum kombiniert mit einer Audiodatei eines weinenden Kindes sollte das Bindungsverhalten des Kindes auslösen. 

„In dieser stressigen Situation wandte sich ein Großteil der Kleinkinder instinktiv an die Mutter, um dort Sicherheit zu suchen – und zwar auch dann, wenn vorher gemessen worden war, dass eine sichere Bindungsbeziehung zum Vater bestand“, so Becker-Stoll. Die Forschung gehe heute davon aus, dass es sich um eine menschheitsbiologisch entwickelte Verhaltensweise handele. 

Warum sind ausgerechnet Kleinkinder so fixiert auf die Mutter?

All das erkläre, findet Fabienne Becker-Stoll, warum Kleinkinder so sehr auf die Mutter fixiert seien. „Entwicklungspsychologisch gesehen passiert wahnsinnig viel bei kleinen Kindern – sie erwerben im Eiltempo einen riesigen Wortschatz, lernen ihre Emotionen zu regulieren und mit Frustrationen umzugehen. Gerade in Phasen, in denen sich so viel verändert, brauchen die Kinder das Vertraute und Gewohnte und sichern sich bei ihren Müttern ab“, erklärt Becker-Stoll. 

„Gerade in Phasen, in denen sich so viel verändert, brauchen die Kinder das Vertraute und Gewohnte”
Fabienne Becker-Stoll

Und noch ein wichtiger Entwicklungsschritt stehe im Alter von drei bis fünf Jahren an, er wird biologischer Realismus genannt: In dieser Phase wird ein Kind sich seiner selbst bewusst, es versteht, dass es eine eigene Person ist und nicht eins mit der Mutter – und auch, dass jeder unterschiedliche Ziele und Bedürfnisse hat. „Auch das löst große Verunsicherung aus. Und die Mutter muss dem Kind Sicherheit geben.“

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Wie geht es Eltern in dieser Situation?

Alles irgendwie verständlich – doch wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite aus? Wie geht es Eltern in der „Mama-Phase“? Die ständig geforderte Mutter ist erschöpft und vielleicht genervt, der Vater fühlt sich hilflos und ausgegrenzt. Fabienne Becker-Stoll erzählt, dass es ihr selbst als junge Mutter auch so ging. „Ich habe damals eine befreundete, ältere Psychologin gefragt, was ich falsch mache“, erinnert sie sich. „Sie sagte, dass ich mich entspannen solle und dass die Papa-Phase noch komme.“ 

Und genauso sei es gewesen. Ab dem Alter von vier bis fünf Jahren könne sich die Bevorzugung von der Mutter auf den Vater verschieben. Keinesfalls sollten die Väter vorher aufgeben und sich aus der Betreuung heraushalten. Gerade beim Explorieren, beim Entdecken der Welt, beim Klettern, Toben, Rangeln seien die Väter jetzt gefragt. 

Becker-Stoll führt als Beispiel eine typische Alltagssituation an: Die Leiter zur Rutsche ist steil, das Kind traut sich nicht hochzuklettern. „Wenn Papa dann da ist und dem Kind signalisiert, dass es das schafft, dass es gesehen wird und dass es immer weiter versuchen soll, zahlt das sehr auf das Bindungskonto ein.“ Natürlich könne die Mutter das Kind auf die gleiche Weise an der Rutsche unterstützen und ermutigen, aber es habe eben nicht denselben Effekt. So wie das Trösten eben bei Mama meistens besser funktioniert. 

Und wenn Papa ins Bett bringen soll?

Fabienne Becker-Stoll fasst zusammen: „Kinder entwickeln sich am besten, wenn sie zu beiden Elternteilen eine sichere Bindungsbeziehung haben.“ Das konnten die Bindungsforscher um Klaus und Karin Grossmann in einer Studie sogar empirisch nachweisen. „Kinder, die als Zweijährige Unterstützung von ihren Vätern bekommen hatten, waren als Jugendliche und junge, erwachsene 22-Jährige selbstsicherer und eigenständiger. Sie hatten mehr Vertrauen in sich und andere als junge Menschen, die diese Unterstützung nicht bekommen hatten.“ 

„Kinder entwickeln sich am besten, wenn sie zu beiden Elternteilen eine sichere Bindungsbeziehung haben.”

Und auch für jene Mütter, die abends erschöpft um den Block schleichen, hat Becker-Stoll einen Tipp. Denn natürlich sei es richtig, dass die Väter versuchen, die Mütter zu entlasten. „Es ist wichtig, zwischen dem Wunsch des Kindes und seinem Bedürfnis zu unterscheiden“, erklärt die Psychologin. „Die dritte Kugel Eis ist ein Wunsch, von Mama nach einem anstrengenden Kita-Tag ins Bett gebracht zu werden, kann Ausdruck von Nähe- und Bindungsbedürfnissen sein.“ 

Gerade nach Kita-Tagen bräuchten Kleinkinder abends oft die Nähe und den Trost der Mutter. Becker-Stoll empfiehlt, dass der Vater das Kind an festen Tagen ins Bett bringt – bevorzugt am Wochenende – und daraus ein besonderes Ritual macht. „Man kann ruhig dick auftragen und die Neugier der Kinder wecken“, rät Becker-Stoll. Wenn Papa ins Bett bringt, dürfen sie nach dem Abendessen noch mit ihm eine Höhle bauen oder ein neues Buch entdecken. Und Mama darf hoffentlich im Schlafanzug auf der Couch im Wohnzimmer sitzen – und muss nicht fluchtartig die Wohnung verlassen. 

Quellen

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll

Expertin

Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz in Bayern