Sport gegen Stress

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Für die einen bedeutet Sport gewinnen, Leistungen bringen, besser werden. Für die anderen – pure Entspannung. Abschalten, Runterkommen, Auftanken – erlaubt ist alles, was glücklich macht. In den vergangenen Jahren ist das aktive Entspannen gerade bei jüngeren Menschen zu einem regelrechten Trendsport geworden. Hier erklären Experten, was Sie beachten sollten, wenn Sie Sport für die Seele machen wollen.

von Ina Henrichs

 

Das vergangene Jahr war purer Stress. Das lässt sich auch in Zahlen erzählen: Jeder Zweite in Deutschland fühlte sich während der Pandemie 2020 stark belastet. Vor allem junge Erwachsene; Frauen mehr als Männer. Die meisten, nämlich 80 Prozent, litten unter dem fehlenden Kontakt zu Familie und Freunden.

Hinzu kam die Angst vor einer Erkrankung (57 Prozent), vor Kita- und Schulschließungen (56 Prozent) und viele gaben an, dass ihre Arbeit tatsächlich stressiger war als vor der Corona-Zeit. Wie es aussieht, werden wir wohl auch in den nächsten Monaten auf eine harte Probe gestellt. Die gute Nachricht ist, dass wir dem Stress nicht immer gnadenlos ausgeliefert sind.

Das Leibniz Institut für Resilienz-Forschung etwa veröffentlichte zur Pandemie eine Liste von zehn Empfehlungen zur psychischen Gesundheit und riet dabei dringend zu regelmäßigem Sport. Bewegung hilft. Das klingt wie eine Binse. Fakt aber ist, dass sie zu wenig beherzigt wurde. Fitness-Studios und Vereine mussten ihre Angebote einschränken – und erst einmal zuhause, konnten sich viele Menschen nicht mehr aufraffen. Sie befanden sich im Stillstand, gestresst.

Effektive Bewegung muss nicht (sportlich) anstrengend sein

Eine gefährliche Kombination. „Ich kann jedem nur empfehlen, sich in dieser anstrengenden Zeit in irgendeiner Form zu bewegen“, sagt Chloé Chermette, Psychologin an der Deutschen Sporthochschule in Köln – und spricht ganz bewusst von Bewegung, nicht von Sport.

Es gibt nicht wenige Menschen, bei denen allein schon der Gedanke an Sport zusätzlich Stress auslöst. Für diese hat die Wissenschaftlerin eine ermutigende Botschaft: „Es gibt einen Trugschluss in der Bevölkerung, dass effektive Bewegung immer anstrengend sein muss.“ Stress kann erfolgreich reduzieren, wer sich in einer moderaten und sogar geringen Intensität bewegt. Selbst ein Spaziergang an der frischen Luft tut gut.

Auf Kontrollmechanismen verzichten

Wer achtsam geht, seine Gedanken auf die Sonne, die Blätter, auf das Hier und Jetzt lenkt, der hat schon viel gewonnen. Das allein sei bereits eine selbstwirksame Art der Alltags-Meditation, die vielen leichter falle als sich direkt einer komplexen Sportart zu widmen, so Chermette.

Wer aber nach dem ersten Spaziergang gleich darüber nachdenkt, die Runde im Park schneller oder eine Runde mehr zu laufen, dabei die Kalorien-Verbrennung und den Puls messen will, muss vorsichtig sein: „Wer sich stressreduzierend bewegen möchte, der sollte auf solche Kontrollmechanismen verzichten.“

Das sei nur etwas für Geübte, die wissen, dass es ihnen guttut, wenn sie sich herausfordern.“ Durch die Natur gehen und dies in den Alltag integrieren – das könnte der erste, tatsächlich effektive Schritt für mehr Wohlbefinden sein.

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Mit Sport bewusst den Stress regulieren

Wer nach einem Training sucht, das mit Anleitung, aber ohne Leistungsdruck funktioniert, landet unweigerlich bei den so genannten Body-and-Mind-Angeboten. Das sind Sport- und Bewegungsarten, die sowohl den Körper als auch den Geist ansprechen – wie zum Beispiel Yoga, Pilates, Tai-Chi, Qi Gong oder Progressive Muskelentspannung.

Sie erfassen den Menschen ganzheitlich und empfehlen sich gerade jetzt in der Zeit vieler Einschränkungen, weil man nicht mehr braucht als seinen eigenen Körper. Und zugegeben, auch eine gute Instruktion, die aber von erfahrenen Trainern inzwischen auch online angeboten werden. Bei allen Unterschieden im Detail stehen alle Body-and-Mind-Angebote für eine körperliche Aktivität, die an sich schon Stress auf mehreren Ebenen regulieren kann.

Stress ist ein komplexes Phänomen und übrigens nicht immer negativ. „Ein bisschen Stress braucht unser Immunsystem, um sich zu stärken“, sagt Chloé Chermette. Wird die Belastung allerdings zu groß, werden wir zum einen kognitiv stark beansprucht:  „Dann kreisen meine Gedanken nur um das, was mich belastet: Job, Chef oder Beziehung.“

Außerdem fühlt man sich schlicht nicht wohl, ist traurig oder erschöpft. Auch das Verhalten wird beeinflusst, weil Menschen unter stressigen Bedingungen etwa zum Rauchen neigen, zum Trinken oder zu ungesundem Essen. Biologisch macht sich Stress unter anderem durch einen erhöhten Level des Stresshormons Cortisol bemerkbar.

Mit Bewegungsabläufen „kognitive Ressourcen” binden

Wer nun zum Beispiel mit Yogaübungen aktiv wird, der vermindert Stress, was sich auf allen Ebenen nachvollziehen lässt: Die Bewegungsabläufe, insbesondere, wenn sie mit Atemtechniken kombiniert werden, binden so viele kognitive Ressourcen, dass man sich gar nicht in den berühmten Gedankenschleifen verlieren kann.

„Ich fühle mich auch sofort wohler, wenn ich nicht immer an eine Sache denke und stärke meine Selbstwirksamkeit, weil ich etwas für mich getan habe“, so die Fachfrau. Wer sich bewegt, sitzt nicht auf der Couch – und der Cortisol-Spiegel im Blut sinkt außerdem.

Bewegung kann auch präventiv wirken, weil sie uns – gerade beim Yoga oder Pilates – für den eigenen Körper und die Seele sensibilisiert. „Ich erkenne früher, dass ich eine Anti-Stress-Einheit brauche und etwas Gutes für mich tun muss“, erklärt Chermette.

Wie häufig muss ich Sport treiben, um Stress abzubauen?

Die Weltgesundheitsorganisation rät grundsätzlich zu 150 Minuten moderate bis intensive Bewegung und 75 Minuten Krafttraining in der Woche. Die Empfehlung schwebt über allem – und ist für viele eine Herausforderung. „Es geht dabei aber nicht nur um Sport“, sagt Chermette. Die Wohnung putzen, Kinder von der Kita zu Fuß abholen, Spazieren gehen – das zählt durchaus dazu.

„Wichtiger aber ist in meinen Augen, dass sich jeder mindestens dreimal in der Woche bewusst dafür entscheidet, etwas für sich, seinen Körper und seine Gesundheit zu tun.“ Das sei der entscheidende Unterschied zur Alltagsaktivität und kann schließlich alles Mögliche sein: Pilates, Meditation oder ein Spaziergang mit der besten Freundin.

„Mit weitergehenden Angaben zur Häufigkeit wäre ich vorsichtig“, sagt sie. Prinzipiell ist klar: Wenn Bewegung zur Gewohnheit wird, fängt man an, sich nach dem Wohlfühleffekt zu sehnen. Das motiviert einen, es immer wieder zu tun.  „Positive Effekte jedoch stellen sich tatsächlich schon nach einmaligem Bewegen ein“, sagt die Psychologin.

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Niemandem etwas beweisen müssen

Wer sich gezielt für einen Body-and-Mind-Sport interessiert, der sollte die Möglichkeiten einfach mal ausprobieren. Eine pauschale Empfehlung gibt es nicht.  Yoga, Pilates und Co. zielen vor allem darauf ab, selbst herauszufinden, was einem gut tut. Was alle diese Bewegungsformen vereint, ist die Einladung, den Fokus auf sich selbst zu lenken.

Keinen Wettbewerb eingehen, keine Erwartungen erfüllen, niemandem etwas beweisen müssen. Stattdessen durch präzise Ausführungen ein Bewusstsein für den eigenen Körper und die eigene Seele entwickeln. „Viele Menschen können gar nicht sagen, was ihnen guttut“, hat zum Beispiel Nadja Koller festgestellt.

Die Sportwissenschaftlerin aus Frankfurt ist Personal Trainerin und rät bei der Suche nach dem richtigen Programm, zunächst den Coach und seine Methode kennenzulernen. „Man sollte bei der Auswahl auf sich hören. Sich nicht für etwas entscheiden, weil man gehört hat, dass der Nachbar das macht, weil es die Frau will oder weil es der Trainer von einem erwartet.“

Ein guter Coach bietet Übungen in verschiedenen Leveln an

Nadja Koller selbst war Kunstturnerin – und bewegt sich heute, wie sie sagt, mit ihrem Trainingsansatz maximal weit weg von dem, was unter Leistungssport und Fitness zu verstehen ist. Das sei derzeit auch tatsächlich nicht gefragt. „Ich habe bemerkt, dass die Menschen, die für Achtsamkeit und Stressreduktion offen sind, jünger werden.“

In der Adventszeit 2020 wurde sie vom Deutschen Turnerbund gebeten, mit diversen Kursen diese Themen in die breite Gesellschaft zu tragen. „Normale Familien, selbst kleine Kinder kommen damit schon in Berührung.“ Ein guter Trend, findet sie. „Es geht um alles, was glücklich macht.“ Die Rolle des Trainers ist dabei nicht unerheblich.

„Es gibt Einsteiger, die brauchen den sanften Anfang“, sagt Koller. Andere kämen gestresst aus einem aktionsreichen Alltag. „Denen kann ich nicht sagen, dass sie sich still hinstellen sollen und mal in ihre Füße spüren.“ Sie holt die unterschiedlichen Menschen unterschiedlich ab. Auch das geht mit Yoga, Pilates und Co., deren Übungen je nach Variation auch sehr anstrengend sein können. 

„Wir vermeiden zwar Schmerzen, aber vielen tut es gut, die Muskeln bis zur Ermüdung zu belasten. Sie spüren dann ihren Körper und ihre Grenzen.“  Einen guten Coach erkenne man daran, dass er die Übungen in verschiedenen Leveln anbietet.  „Ich sage immer hundertmal: Erlaube dir, in diesem ersten Level zu bleiben, wenn es das ist, was dir gerade guttut.“ Das sollte auch ein Trainer betonen, der Kurse online per Video anbietet.

Stress wegatmen

Yoga, Pilates und Co. stärken den ganzen Körper, lösen Spannungen, sorgen für mehr Beweglichkeit. Sowohl Nadja Koller als auch Chloé Chermette betonen, dass bei diesen Bewegungsarten die Atmung eine herausragende Rolle spielt. Wer im Stress ist, atmet häufig flach und in den Brustkorb hinein, das Herz schlägt schneller.

Atmet man beispielsweise bewusst tief in den Bauch ein und atmet lange aus, kann sich das Herz und das gesamte System wieder beruhigen. Unzählige Übungen gibt es dazu, weshalb Nadja Koller eigens Kurse nur zu Atemtechniken anbietet.

Eine Übung, die jeder gleich mit ins neue Jahr nehmen kann: Rausgehen und beim Spazieren die Atemzüge zählen. Bis zehn und dann wieder von vorne. Das vertreibt zumindest vorübergehend trübe Gedanken – und macht offen für das, was trotz aller Widrigkeiten in dieser Zeit möglich ist. 

 

Quellen:

Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse (TK) 2020.