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Kollektiver Freudentaumel – wie Euphorie Gräben überwinden kann

Die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland tauchte ein ganzes Land in kollektiven Freudentaumel. Und das, obwohl die Klinsmann-Elf am Ende gar nicht mit der begehrten Trophäe vom Platz ging. Welche Zutaten sind nötig, um eine kollektive Euphorie auszulösen? Und was macht sie mit den Menschen? Auf diese und weitere Fragen gibt der Psychologe Jens Lönneker Antwort.

Ein Land berauscht sich an sich selbst

Fahnen an allen Häuserfronten, hupende Autos, jubelnde Menschen, die sich in den Armen liegen. Die Sportfreunde Stiller dröhnen über Plätze, durch Parkanlagen und Schrebergärten: „’54, ’74 ‚’90, 2006. Ja, so stimmen wir alle ein. Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein, werden wir Weltmeister sein.“ Mit dem Titel wurde es bei der Heim-Weltmeisterschaft der Fußball-Nationalmannschaft 2006 dann bekanntlich ja nichts.

Klinsmanns Boygroup schied im Halbfinale gegen Italien aus, die schafften dann gegen Frankreich einen Sieg im Elfmeterschießen. Aber da war Deutschland gegen Portugal schon Dritter geworden. Und was viel wichtiger erschien: der Weltmeister der Herzen. Denn: Während dieser vier Wochen im Juni und Juli 2006 zeigten sich Deutschland und seine Bewohnerinnen und Bewohner von ihrer allerbesten Seite. Sie waren die Gastgeber, die man sich gewünscht hatte. Sie feierten die Vielfalt aller Nationen, die man eingeladen hatte.

„Alle zusammen hatten eine Stimmung erschaffen, die jeden Einzelnen eine ganze Zeit lang auf ihren Wogen mit sich trug.”

Ein ganzes Land berauschte sich an sich selbst, an seiner Willkommenskultur, einigen Siegen, aber ebenso an seinem Willen, auch ein guter Verlierer sein zu können. Alle zusammen hatten eine Stimmung erschaffen, die jeden Einzelnen eine ganze Zeit lang auf ihren Wogen mit sich trug. Sogar das Wetter spielte mit. Gefühlt nur Sonnenschein, vier lange Wochen Kaiserwetter, ein einziges Hochdruckgebiet. Wenn am 14. Juni 2024 nun die Europameisterschaft in Deutschland startet, wünschen sich viele eine Wiederholung dieser kollektiven Euphorie. Aber kann das gelingen?

Wunsch, sich von einer besseren Seite zu zeigen

Entscheidende Zutat im Sommer 2006 war nach Aussage von Psychologe und Marktforscher Jens Lönneker vom Rheingold Salon der Wille, sich von einer anderen Seite zu zeigen. „Nach der Wiedervereinigung war der Wunsch groß zu zeigen, dass Deutschland nicht nur der Aggressor ist, der andere überfällt, sondern eben auch ein toller Gastgeber sein kann, den man gern besucht“, sagt Lönneker.

Dieser Wunsch habe den sportlichen Ehrgeiz, Sieger sein zu wollen, sogar noch überlagert und führte dazu, dass die Bevölkerung auch nach dem Aus im Halbfinale noch im Freudentaumel schwelgte – und diese Zuversicht auch im Anschluss noch einige Zeit anhielt: „Es war eine glückliche Zeit.“

Sportlicher Erfolg als Kitt der Gesellschaft

Aber auch der Erfolg könne natürlich durchaus eine kollektive Euphorie auslösen. Als Beispiel führt Lönneker die Weltmeisterschaft in Frankreich im Jahr 1998 an. Damals ging ein tiefer Riss durch die französische Gesellschaft. Auf der einen Seite standen die Menschen mit nordafrikanischer Migrationsgeschichte, auf der anderen der Rest der Bevölkerung. „Im Moment des Triumphs konnte für einen Moment dieser Riss überwunden werden“, so Lönneker.

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„Und die Jungs aus den Banlieues widmeten ihren Sieg ihrem Heimatland Frankreich, dem sie auf der anderen Seite natürlich auch viel zu verdanken hatten.”
Jens Lönneker

Das war auch der Tatsache geschuldet, dass die französische Nationalmannschaft zu einem Großteil aus Spielern mit Migrationshintergrund bestand. „Und die Jungs aus den Banlieues widmeten ihren Sieg ihrem Heimatland Frankreich, dem sie auf der anderen Seite natürlich auch viel zu verdanken hatten.“ Das Kollektiv, das sich als solches erfährt und plötzlich die Kraft verspürt, ein gemeinsames Ziel zu haben und das in der Gemeinschaft umsetzen zu können, kann laut Lönneker eine ungeheure Macht entwickeln. Und im Schwung tiefe gesellschaftliche Gräben überwinden.

Wie entsteht kollektive Euphorie?

Zunächst muss man vielleicht das Glück selbst erklären. Psychologen und Philosophen aller Jahrhunderte haben sich damit beschäftigt und waren häufig kritisch. Psychoanalytiker Sigmund Freud sah die Absicht, dass der Mensch glücklich ist, im Plan der Schöpfung schlicht nicht enthalten und erteilte zumindest dem Glück von Dauer eine kategorische Absage. Und in der Tat sind sich auch Freuds Nachfolger darin einig, dass das Glück, also die Abwesenheit jeder Spannung, nur eine kurze Episode sein kann.

„Es geht wahrscheinlich immer nur um einen Moment. Aber dieser Moment kann sich einstellen: Plötzlich stimmt alles für einen Augenblick.”
Jens Lönneker

„Es geht wahrscheinlich immer nur um einen Moment. Aber dieser Moment kann sich einstellen: Plötzlich stimmt alles für einen Augenblick“, sagt Lönneker. Das Tückischste am Glück sei vielleicht, dass man es nicht planen könne. Da fiebere man monatelang auf eine Hochzeit hin und dann stelle sich das Glück ganz unverhofft an einem schönen Sommertag bei der Gartenarbeit ein. „Da kann es passieren, dass für einen Moment alles in Ordnung scheint, die Welt steht kurz still.“

Dieses Gefühl könne sich auch in der Gemeinschaft mit Vielen einstellen. Oft mische sich zu dem Glück hier noch ein Gefühl von Gestaltungsmöglichkeit und Macht. Denn kollektive Euphorie lässt sich am besten über die Massenpsychologie erklären. Indem die Einzelnen sich als Teil eines großen Ganzen erfahren, sind sie für einen Moment in der Lage, eigene egoistische Motive dem Kollektiv unterzuordnen.

„Darin liegt auch das große Versprechen, dass diese vereinte Masse Dinge erreichen kann, die für den Einzelnen unerreichbar erscheinen. Plötzlich spürt man Macht, Einfluss, Spielraum. Das kann sehr berauschend wirken“, sagt Lönneker. Bei einem Fußball-Großereignis jubeln deshalb plötzlich auch komplett Unsportliche, durch die kollektive Verbundenheit können sie schaffen, was ihnen als Einzelner unmöglich wäre: Europameister werden.

Eines haben alle Menschen gemeinsam: Sie wollen glücklich sein. Doch wie genau wird man das? Lesen Sie mehr in unserem Artikel „Glücksjäger Mensch: Was uns glücklich macht“.

Wirkt kollektive Euphorie auch auf das Leben abseits des Fußballplatzes?

Von einer positiven kollektiven Erfahrung wie einem Fußballgroßereignis im eigenen Land profitieren laut Lönneker im Nachgang eigentlich alle. In Meinungsumfragen werde meist sowohl Regierungsarbeit als auch wirtschaftliche Lage besser bewertet. Das Arbeitsklima verbessert sich, die Produktivität steigt, was häufig auch zu einer real besseren wirtschaftlichen Lage führe. „Der Einzelne fühlt sich vielleicht mutiger, nimmt Neues in Angriff, denkt sich: Vielleicht schaffen wir andere Sachen ja nun auch“, so Lönneker.

Das funktionierte relativ beeindruckend auch nach der Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Nach dem verlorenen Krieg und der schrecklichen Nazizeit verlieh der Triumph der Elf um Sepp Herberger vielen Deutschen das Gefühl: Wir sind wieder wer. Durch die Begeisterung für den Fußball entstand eine Gemeinschaft, die wegen ihrer Größe und der Intensität ihrer Gefühle eine neue Qualität besaß. Und das, obwohl die Gemeinschaft damals quasi nur virtuell entstand.

„Kollektive Euphorie kann dafür sorgen, dass Menschen sich selbst und auch ihr Umfeld positiver bewerten.”
Jens Lönneker

Schließlich haben die meisten Menschen die Spiele nur über ein Radiogerät zu Hause in der Familie verfolgen können. Getragen von diesem vorsichtigen Selbstbewusstsein, so sagen einige Experten, konnte das Wirtschaftswunder geschehen. Auch für die Europameisterschaft 2024 erwartet die University of Applied Sciences in Bad Homburg positive wirtschaftliche Auswirkungen.

„Kollektive Euphorie kann dafür sorgen, dass Menschen sich selbst und auch ihr Umfeld positiver bewerten“, sagt Lönneker. Die Risikofreude steige, die Zweifel nähmen ab, das Kommende erscheine in positiverem Licht. Diesen Effekt kann man nach Untersuchungen von Wirtschaftspsychologen übrigens auch in kleinerem Maßstab beobachten: Gewönne eine Mannschaft die Meisterschaft, stiege das Selbstbewusstsein der gesamten Stadt und führte so auch oft zu einer besseren Wirtschaftsleistung.

Die kollektive Euphorie bei Musikereignissen

Fußballgroßereignisse sind für die Möglichkeit des gemeinschaftlichen Glückstaumels quasi ein zu verwandelnder Elfmeter. „Dieser Sport steckt in unserer nationalen DNA.“ Aber der Ballsport ist natürlich nicht einzig möglicher Auslöser kollektiver Glückszustände. Auch beim Tanzen in Clubs beispielsweise kann sich der Einzelne in der Euphorie der Masse auflösen. Förderlich sei hier vor allem der Rhythmus, in dem sich alle gemeinsam bewegen und der dadurch die Gemeinschaft noch mehr eine.

„Auch beim Tanzen in Clubs beispielsweise kann sich der Einzelne in der Euphorie der Masse auflösen.”

„Studien zum Sponsorship zeigen sogar, dass Sport eher die Wettkampfeigenschaft und das Gegeneinander einer Marke betont, während Musik mehr das Vereinende und das Miteinander in den Mittelpunkt rückt. Insofern wäre ein Rave möglicherweise sogar besser geeignet, Deutschland in einen kollektiven Glücksrausch zu stürzen. Die Gefahr des Verlierens besteht hier nämlich nicht.

Dass die EM im Sommer stattfindet, ist ein vielversprechendes Zeichen, denn die Menschen sind zu dieser Zeit in der Regel glücklicher. Erfahren Sie mehr in unserem Artikel „Sommer, Sonne, Glücksgefühle: Warum wir im Sommer meist glücklicher sind“.

Quellen

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Jens Lönneker

Experte

Tiefenpsychologe vom Marktforschungsinstitut Rheingold Salon

Claudia Lehnen

Autorin

Claudia Lehnen wollte als Jugendliche Ärztin werden, entschied sich dann aber dafür, lieber über Medizin und Menschen und ihre Krankheits- und Genesungsgeschichten zu berichten. Die in Köln niedergelassene Journalistin, die im Tageszeitungs-Journalismus zu Hause ist, ist unter anderem auf das Themengebiet Gesundheit spezialisiert.