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Wenn die Zunge Zähne verschiebt: Logopädie hilft

Da Zahn- und Kieferfehlstellungen durch die Zunge bedingt sein können, setzen Kieferorthopäden für eine erfolgreiche Therapie auch auf die Hilfe der Logopädie. Warum Logopäden da helfen können, wie die Zusammenhänge von Zunge bzw. einem Problem der Zunge und den Zähnen sind, und warum es so wichtig ist, insbesondere bei Kindern darauf zu achten, das erläutern wir in diesem Artikel.

Fehlfunktionen im Mund-Gesichts-Bereich (orofaziale Dysfunktion)

Der Weg zur Schule fällt Sam zunehmend schwer. Seine Mitschüler hänseln den elf Jahre alten Jungen wegen seines Gebisses. Seine Schneidezähne sind stark nach vorne geneigt, sein Mund ist immer offen.  Bei jedem Schluckvorgang drückt sich die Zunge zwischen die Zahnreihen, wodurch über die Jahre eine klaffende Lücke entstanden ist.

Für Professor Christopher J. Lux ist Sam kein untypischer Patient. Der Ärztliche Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie am Uniklinikum Heidelberg ist häufig mit solchen Fragestellungen einer sogenannten orofazialen Dysfunktion konfrontiert. Dabei handelt es sich um Fehlfunktionen im Mund-Gesichts-Bereich. Diesem Phänomen sei mit einer rein kieferorthopädischen Therapie, wie etwa dem Einsetzen einer Spange, allein nicht immer beizukommen.

„In Fällen wie diesem setzen wir auf die enge Zusammenarbeit mit Logopädinnen und Logopäden“, sagt Lux. „Sie schaffen oftmals wichtige Voraussetzungen dafür, dass eine kieferorthopädische Behandlung im Anschluss den gewünschten Erfolg erzielt oder auch andersherum: die Kieferorthopädie schafft Voraussetzungen für eine zielgerichtete logopädische Therapie.“

Wichtig zu Wissen

Zahn- und Kieferfehlstellungen sind häufig nicht nur ein ästhetisches Problem, sondern können abhängig von ihrer Ausprägung auch die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Nicht nur Probleme beim Sprechen, Kauen oder Schlucken können mögliche Folgen sein, sondern auch:

  • Schlafstörungen,
  • Kopfschmerzen,
  • Verspannungen.

Das Problem beginnt häufig bereits im Kindesalter. Deshalb ist es wichtig, bei kleinen Kindern genau hinzugucken und gegebenenfalls direkt Maßnahmen zu ergreifen. In solchen Fällen arbeiten Logopäden und Kieferorthopäden eng zusammen

Wenn die Zunge schlaff am Mundboden liegt

Die Symptome bei einer orofazialen Funktionsstörung seien ganz unterschiedlich, sagt Kieferorthopäde Lux. Häufig zu beobachten sei die offene Mundhaltung mit einer eher schlaff im Mundboden liegenden Zunge. Dadurch könne es zudem zur Ausbildung eines seitlichen Kreuzbisses kommen. Hier sei eine Abklärung durch einen HNO-Arzt oftmals sinnvoll, um mögliche andere Ursachen zu erkennen, sagt Lux.

Kann nicht dauerhaft gut durch die Nase geatmet werden, etwa wegen Allergien oder bei vergrößerten Rachenmandeln („Polypen“), muss dies unbedingt Beachtung finden und entsprechend behandelt werden, da sonst physiologische Funktionen des Mundes erschwert oder unmöglich werden. Denn wer nicht durch die Nase atmen kann, muss den Mund offenlassen

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„Kann nicht dauerhaft gut durch die Nase geatmet werden, muss dies unbedingt Beachtung finden und entsprechend behandelt werden.”

Beeinträchtigte Nasenatmung kann weitreichende Folgen haben

Eine dauerhaft beeinträchtigte Nasenatmung oder ein kurzes Zungenband können sich bei Säuglingen enorm störend auf das Saugen auswirken und später die physiologische Entwicklung des Beißens, Kauens und Schluckens erheblich beeinträchtigen. In der Folge können sich leicht Zahn- und Kieferfehlstellungen entwickeln. Ausgeprägte Fehlstellungen wiederum können Atem-, Kau- und Schluckmuster verhindern, denn Form und Funktion sind eng miteinander verwoben.

„Eine gute Grundlage für eine gesunde Gebissentwicklung bietet das Stillen, das die Muskulatur von Zunge, Lippen und Wangen optimal fördert.”

Ursachen können vielfältig sein

Die Ursachen für Zahn- und Kieferfehlstellungen können sowohl angeboren als auch durch abweichende orofaziale Funktionen bedingt sein. Am häufigsten ist aber eine Mischung aus beidem. Eine gute Grundlage für eine gesunde Gebissentwicklung bietet das Stillen, das die Muskulatur von Zunge, Lippen und Wangen optimal fördert. Durch die wellenartige Bewegung der Zunge gegen den Gaumen, hilft sie diesen auszuformen. Die Zunge hat anfangs im kleinen Säuglingsmund noch wenig Bewegungsfreiheit.

Doch mit dem Wachstum werden auch die Zungenbewegungen größer; mit ca. sechs bis acht Monaten schafft die Zunge auch Seitwärtsbewegungen, die für das Kauen entscheidend sind. Damit kann der Übergang zu breiiger Nahrung und schließlich die langsame Einführung fester Kost um den 12. Lebensmonat herum beginnen. So entwickelt sich aus dem Saug-Schluckmuster schrittweise ein Kau-Schluckmuster. Da die Zunge bei kleinen Kindern im Verhältnis zu den umgebenden Strukturen des Kiefers noch größer ist als bei Schulkindern, Jugendlichen oder Erwachsenen ist das Schluckmuster noch eher gegen die Zähne gerichtet.

Ideale Zungenlage ist entscheidend

Verändert sich das Schluckmuster im Laufe der Entwicklung nicht in ein gegen den Gaumen gerichtetes Schlucken, sondern bleibt gegen oder zwischen die Zahnreihen gerichtet, kann das eine massive Belastung für Zähne und Kiefer bedeuten. Der Experte spricht dann von „Zungenstoßschlucken“. Liegt die Zunge auch in Ruhe, also wenn z.B. nicht gegessen oder gesprochen wird, an oder zwischen den Zahnreihen oder nur am Mundboden und ist dabei vielleicht sogar der Mund offen, hat dies einen noch wesentlicheren Einfluss auf die Entwicklung der Zähne und des Kiefers. Der Gaumen kann sich ohne den Wachstumsreiz durch die Zunge nicht richtig entwickeln. Er bleibt häufig schmal und klein.

Erschwerend können weitere Dysfunktionen hinzukommen, sogenannte Habits, also schlechte Angewohnheiten wie:

  • Daumenlutschen,
  • Lippenbeißen,
  • Nägelkauen oder auch
  • das Schmatzen beim Essen.

„Habits“ abgewöhnen: Der richtige Zeitpunkt ist wichtig

Bei Kindern können sich bestimmte „Habits“, sprich Angewohnheiten,  wie das lange und intensive Lutschen am Daumen oder Schnuller besonders negativ auf die Kieferentwicklung auswirken. Sie sollten deshalb möglichst früh abgestellt werden. Dafür reichten manchmal ganz einfache Hilfsmittel wie eine Mundvorhofplatte aus.

„Laut einer Studie ist das Zungenband bei etwa acht Prozent aller Neugeborenen zu kurz. In diesen Fällen sei es für die Zunge schon rein anatomisch nicht möglich, sich flächig an den Gaumen zu legen.”

Angeborene Ursache: Verkürztes Zungenband

Was als Ursache für die mangelnde Funktion zudem häufig außer Acht gelassen werde, sei ein verkürztes Zungenband, sagt Lux. Das Häutchen verbindet die Zunge mit dem Mundboden. Laut einer Studie ist es bei etwa acht Prozent aller Neugeborenen zu kurz. In diesen Fällen sei es für die Zunge schon rein anatomisch nicht möglich, sich flächig an den Gaumen zu legen. Hier kann dann ggf. eine Frenotomie, also das Durchtrennen des Zungenbandes, eine Verbesserung bringen.

Aber auch dieses sollte durch eine Logopädin oder einen Logopäden begleitet werden, rät Lux. Die Auswirkungen einer Verkürzung würden oft unterschätzt. „Ich höre von Patienten immer mal wieder, dass ein kurzes Zungenband vielleicht schon früh aufgefallen ist, aber niemand eine Notwendigkeit erkannt hat, diesen Zustand zu ändern“, sagt Logopädin Kuhrt. „Nach dem Motto: wenn der Bub sprechen und essen kann, dann passt es schon.

Dem ist aber leider nicht so.“ Ein zu kurzes Zungenband führe beim Schlucken häufig zu einem Vorschieben der Zunge und des Unterkiefers und könne zudem auch die Artikulation beeinflussen. Unter Umständen kann es laut Kuhrt sogar den Schlaf, die Konzentrationsfähigkeit, die Sprach- und Essentwicklung, die Stimme, die Muskulatur des Nackens, der Schultern und des Kiefers und das Kieferwachstum beeinträchtigen.

„Das genaue Vorgehen hänge stark vom Alter ab”
Logopädin Kuhrt

Wann genau das Hinzuziehen eines Logopäden sinnvoll ist, sei von Fall zu Fall verschieden, sagt Dr. Milena Kluge, die zu Lux‘ Team gehört. Sollte etwa der Gaumen zu schmal ausgebildet sein und der Zunge nicht genug Platz bieten, sei eine Therapie kaum ratsam. In solchen Fällen sei es angebracht, dass zunächst der Kieferorthopäde durch eine Zahnspange den Gaumen breiter macht, bevor der Logopäde eingreift.

Das genaue Vorgehen hänge stark vom Alter ab, sagt Logopädin Kuhrt. „Während ich mit einem 13-Jährigen die millimetergenaue Position der Zunge in Ruhelage und beim Schlucken erarbeiten kann, ist bei einer Sechsjährigen das Etablieren der Nasenatmung, das Schlucken mit geschlossenen Zahnreihen und das Kauen mit geschlossenen Lippen zunächst ausreichend und realistisch zu erreichen“, sagt sie. Je jünger die Kinder seien, desto mehr komme es auf die Mitarbeit der Eltern an, die neuen Abläufe in alltäglichen Situationen zu Hause auch umzusetzen.

Einbeziehen eines Logopäden in manchen Fällen besonders wichtig

 „Gerade bei orofazialen Dysfunktionen in Kombination mit bestimmten kieferorthopädischen Fehlstellungen ist das Hinzuziehen eines Logopäden besonders wichtig“, sagt Experte Lux. An der Heidelberger Uniklinik geht man diesen Weg schon seit vielen Jahren. Von den Erfahrungen sollen jetzt auch andere Kolleginnen und Kollegen profitieren. Lux hat sich mit seinem Team aus Kieferorthopäden mit der niedergelassenen Logopädin Steffi Kuhrt zusammengetan. Gemeinsam arbeiten sie an einem Lehrbuch, das 2024 erscheinen soll.  „Ziel ist es, das Wissen, um das jeweils andere Fachgebiet zu erweitern und damit für beide Seiten die nötigen Therapieschritte besser nachvollziehbar und planbar zu machen“, sagt Lux.

„Der Kieferorthopäde steuert das Knochenwachstum und die Zahnbewegung, die Logopädin […] ist maßgeblich für die Therapie der Muskelfunktion zuständig.”

Kieferorthopäde und Logopäde: So läuft die Zusammenarbeit

Sollte der Arzt eine orofaziale Dysfunktionen erkennen, stellt er eine Überweisung an eine Logopädin oder einen Logopäden aus. Dann agieren die Experten Hand in Hand: Der Kieferorthopäde steuert das Knochenwachstum und die Zahnbewegung, die Logopädin wiederum kümmert sich um das umliegende Weichgewebe, ist maßgeblich für die Therapie der Muskelfunktion zuständig.

Die Aufgabe der logopädischen Therapie besteht darin, gesunde orofaziale Funktionen herzustellen: Eine Ruhelage mit einem entspannten Mundschluss und einem flächigen Anliegen der Zunge an den Gaumen, ein Schluckmuster mit gegen den Gaumen gerichteter Zungenbewegung. Außerdem werden auch das Kauen, die Artikulation, Abweichungen der Haltung und das Vorhandensein von Habits in die Diagnostik und Therapie einbezogen.

Damit die Zusammenarbeit aber maximal effizient läuft, habe man an der Heidelberger Uniklinik aus der Vergangenheit gelernt und den Therapieplan deutlich gestrafft. „Wir möchten weg von endlosen logopädischen Behandlungen mit 30 bis 40 Sitzungen und mehr hin zu einer effizienten, zielgerichteten Therapie“, sagt Kluge. Eine rein kieferorthopädische Behandlung ganz ohne Begleitung durch einen Logopäden kann allerdings in manchen Fällen wenig zielführend sein. Gestörte Funktionen würden erhalten bleiben, das Risiko von Rückfällen in die alte Gebiss-Situation wäre groß. Gerade beim Zungenstoßschlucken könnten sich erneut Lücken in den Scheidezähnen bilden.

So können Eltern vorbeugen

Eltern haben die Möglichkeit, eine gesunde Entwicklung des Kieferwachstums bei ihren Kindern zu unterstützen. Das Anbieten kauintensiver Nahrung, das Kauen mit geschlossenem Mund, eine aufrechte Haltung am Tisch und das gemeinsame Essen ohne Ablenkung durch Medien sind schon ein guter Anfang. Außerdem sollten Eltern Vorsorgeuntersuchungen beim Zahnarzt regelmäßig wahrnehmen.

Wenn es Probleme beim Stillen gibt oder die Umstellung auf breiige und feste Nahrung schwierig ist, Kinder mit offenem Mund schlafen, vielleicht sogar schnarchen, und auch tagsüber der Mund häufig offensteht, dann sollte dies sehr genau beobachtet und im Zweifel medizinisch abgeklärt werden. Lutschgewohnheiten sollten möglichst mit dem Eintritt in den Kindergarten abgestellt sein. Das fällt umso leichter, sagt Kuhrt, wenn der Schnuller schon vorher nur im Notfall zum Einsatz kommt und für die Kinder nicht ständig verfügbar ist.

Immer mehr Erwachsene wünschen Korrekturen

Orofaziale Dysfunktionen und Zahn- und Kieferfehlstellungen betreffen aber nicht nur Kinder. Sie können in jedem Alter auftreten, betont Kieferorthopädin Kluge. „Aktuell ist die Zahl der Patienten, die sich auch im Erwachsenenalter eine Korrektur der Zahnstellung und Bisslage wünschen, ansteigend.“ Generell ist es für eine Therapie nie zu spät. Auch Erwachsene haben gute Chancen auf Verbesserung. Auch hier könne eine Überweisung an den Logopäden lohnenswert sein.

Auch wenn etwa eine Korrektur der Kieferfehllage nur durch einen kombiniert kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Eingriff möglich ist, kann je nach Kieferfehlstellung eine orofaziale Diagnostik vor der Operation sinnvoll sein. Aber auch hinterher kann sich der Weg zum Logopäden lohnen, um das Weichgewebe optimal an die neuen knöchernen Gegebenheiten anzupassen.

Übrigens:

Zahn- und Kieferfehlstellungen können jenseits der hier beschriebenen Phänomene erheblich die Lebensqualität beeinträchtigen. Mehr über die Wechselwirkung zwischen Zahn und Gesundheit – insbesondere bei Erwachsenen – lesen Sie in folgendem Artikel: „Zähne und Gesundheit – wie beeinflussen sie sich gegenseitig?“.

Quellen

  • Dieser Artikel ist mit Unterstützung von Prof. Dr. med. dent. Christopher J. Lux, ärztlicher Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie am Uniklinikum Heidelberg, sowie Steffi Kuhrt, Logopädin mit eigener Praxis, entstanden.
Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Prof. Dr. med. dent. Christopher J. Lux

Experte

Ärztlicher Direktor der Poliklinik für Kieferorthopädie am Uniklinikum Heidelberg

Icon, das einen Experten/eine Expertin symbolisiert. Symbol für die Envivas Fach-Experten.

Steffi Kuhrt

Expertin

Logopädin mit eigener Praxis in Stutensee-Spöck seit 2020, arbeitet als Logopädin seit 2005

Ronald Voigt

Autor

Ronald Voigt arbeitete als Redakteur für verschiedene ARD-Nachrichtensendungen, bevor er als Manager bei privaten Krankenversicherungen sowie in der Pharmabranche tätig war. Als freier Redakteur schreibt er seit vielen Jahren über gesundheitliche Themen, Gesundheitspolitik und über Trends im Gesundheitsbereich.