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Reisetrend Gig-Tripping: Wenn das Konzert zum Reiseziel wird
7.000 Kilometer für zwei Stunden Musik – das ist für Hardcore-Adele-Fans kein Problem. Nach Chicago und Las Vegas stand im Sommer 2024 München auf vielen Bucket-Listen. Der Grund? Hier können sie Adele für einen Bruchteil des amerikanischen Preises erleben. Das Flugticket nach Europa ist eingepreist, ebenso das Hotel. Lange tourten Stars um die Welt, um möglichst viele Fans zu erreichen. Jetzt sind es die Fans, die reisen. Eine Umkehr des Prinzips Welttournee, bekannt als neues Reisephänomen Gig-Tripping.
Die Welt wird zur Bühne
Wenn Oasis im Rahmen ihrer Live ’25-Tour zum ersten Mal seit 16 Jahren wieder im Wembley-Stadion auftreten, werden an jedem der sieben Konzertabende über 90.000 Menschen nach London reisen. Städte wie München, Paris oder London sind längst keine Kulisse mehr, sondern Festivalareale auf Zeit.
Für Adeles Konzertserie in München baute der Konzertveranstalter Live Nation eine Arena, wie sie zuvor kaum denkbar war: 75.000 Plätze, die größte Bildschirmwand der Welt, ein Laufsteg durchs Publikum und ringsum eine „Adele-World“, samt Riesenrad, Marktständen und Pubs. Der britische Superstar spielte auf zehn Open-Air-Konzerten vor insgesamt über 730.000 Fans aus aller Welt.
Was Gig-Tripping für viele Besucher aus Übersee überhaupt erst interessant macht, ist der deutliche Preisunterschied zwischen Konzerttickets in den USA und Europa. So wurden etwa stark nachgefragte Karten für Taylor Swifts letzte Tournee in den Staaten auf Onlineplattformen im Weiterverkauf für bis zu 8.000 Dollar angeboten. In Europa zahlte man umgerechnet ein Zwanzigstel.
„Gig-Tripping wird vor allem durch den deutlichen Preisunterschied zwischen Konzerttickets in den USA und Europa attraktiv. ”
Für die vier ausverkauften Swift-Konzerte in Paris soll jedes fünfte Ticket ein Mensch aus den USA gekauft haben, berichtet der Schweizer „Tages-Anzeiger“ im August 2024 – das macht 30.000 per Flug angereiste Fans.
„Der Trend zum Gig-Tripping ist aus Klimaperspektive problematisch“
Wer bei solchen Geschichten sorgenvoll an den ökologischen Fußabdruck denkt, liegt richtig. Aus Klimasicht ist Gig-Tripping ein Desaster: Der CO₂-Ausstoß eines Transatlantikflugs pro Person übersteigt bei weitem die Emissionen des eigentlichen Konzertbetriebs. Dazu kommt: Viele der internationalen Gäste kombinieren das Konzert mit weiteren Städtetrips und verlängern so nicht selten ihren Aufenthalt zu einer Europa- oder Rundreise – mit weiteren Emissionen.
Zwar widersprechen Veranstalter wie Marek Lieberberg von Live Nation dem Vorwurf, Großkonzerte wie Adeles Open-Air-Serie seien ökologisch fragwürdig. In einem ZDF-Interview betonte er die Nachhaltigkeit des sogenannten Residency-Prinzips – also viele Auftritte an einem einzigen Ort. „Das ist ein interessanter Aspekt für Künstler mit dieser oder ähnlicher Zugkraft: dass man an einem Schauplatz verweilt, dass man die Reisen ausschließt – und damit vermeidet, riesige Massen an Trucks und Menschen ständig zu bewegen“, so Lieberberg.
Aber ist es nicht ausgerechnet das Residency-Prinzip, was erst Mega-Events mit Social-Media-Hype als globale Erlebnisräume schafft und geradezu magnetisch auf die Masse internationaler Besucher wirkt?
„Der Trend zum Gig-Tripping ist aus Klimaperspektive problematisch, besonders wenn für wenige Stunden Musik Fernreisen per Flugzeug unternommen werden.”
„Der Trend zum Gig-Tripping ist aus Klimaperspektive problematisch, besonders wenn für wenige Stunden Musik Fernreisen per Flugzeug unternommen werden. Das widerspricht den Zielen nachhaltiger Mobilität“, meint dazu Felix Hiemeyer, Tourismusforscher an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Die Summe aller Emissionen ist enorm – gerade, weil viele Fans aus den USA oder Asien zu den Mega-Events anreisen und das Beispiel zur Nachahmung einlädt. „Es gibt klimafreundlichere Alternativen wie Bahnreisen oder intermodale Anreisen. Entscheidend ist nicht nur das ,Ob‘, sondern das ,Wie‘“, hebt Hiemeyer hervor.
Veranstaltungsboom ohne Nebenwirkungen
Zwar profitieren Städte zunächst vom Gig-Tripping. Hotellerie, Gastronomie, Einzelhandel – alle freuen sich über neue Gäste. In München etwa hat die Konzertresidenz von Adele über eine halbe Milliarde Euro eingespielt. Gleichzeitig steigen Mieten – etwa durch Airbnb – der Verkehr kollabiert, Nachbarschaften klagen über Lärm.
Es sei falsch, das Thema allein auf den CO₂-Ausstoß zu reduzieren: „Gig-Tripping kann Overtourism verstärken“, sagt Hiemeyer. „Events schaffen zusätzliche Reiseanlässe und erhöhen den Druck auf urbane Räume.“ Der Tourismusforscher plädiert für nachhaltigere Konzepte: „Veranstalter könnten Kombitickets mit ÖPNV und Bahn integrieren, bestehende Stadien nutzen statt temporäre Arenen errichten, lokale Dienstleister einbinden – das spart Emissionen und stärkt die regionale Wirtschaft.“ Wichtig sei, den CO₂-Fußabdruck sichtbar zu machen – etwa durch Zertifikate oder Kompensationsmodelle.
Erlebnis statt Besitz: Der Wandel der Fan-Ökonomie
Gig-Tripping klingt verspielt, doch dahinter steckt eine tiefere Dynamik. Für Felix Hiemeyer ist der Reisetrend Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs: „Die Durchdringung von Kultur sämtlicher Lebensbereiche ist einer der stärksten Reisetreiber unserer Zeit. Erlebnisse wie Konzerte stiften soziale Zugehörigkeit und fungieren als Statussymbole – besonders im digitalen Raum.“
Gig-Tripping klingt verspielt, doch dahinter steckt eine tiefere Dynamik. Für Felix Hiemeyer ist der Reisetrend Ausdruck eines gesellschaftlichen Umbruchs: „Die Durchdringung von Kultur sämtlicher Lebensbereiche ist einer der stärksten Reisetreiber unserer Zeit. Erlebnisse wie Konzerte stiften soziale Zugehörigkeit und fungieren als Statussymbole – besonders im digitalen Raum.“
„Die Durchdringung von Kultur sämtlicher Lebensbereiche ist einer der stärksten Reisetreiber unserer Zeit. Erlebnisse wie Konzerte fungieren als Statussymbole – besonders im digitalen Raum.”
Was früher der Mercedes war, ist heute das Selfie aus der ersten Reihe. Soziale Medien wie Instagram verstärken den Effekt: Das geteilte Erlebnis erzeugt Anerkennung, Sichtbarkeit – und FoMo, die Angst, etwas zu verpassen.
Genau darauf setzen Veranstalter mit immer neuen Superlativen. Doch wie verträgt sich diese Erlebniskultur mit dem steigenden Bewusstsein für Nachhaltigkeit? „Zudem steht dahinter eine größere Frage nach sozial-ökologischer Gerechtigkeit. Wie wollen wir unser Verhältnis zu Konsum, Erleben und Reisen in Zukunft gestalten? Es braucht gesellschaftliche Aushandlungen über neue Formen des guten Lebens“, erklärt Hiemeyer. Denn auch wenn CO₂-Kompensation und Bahn-Reisepakete angeboten werden – die Schere zwischen Ideal und Handeln bleibt groß.
„Kognitive Dissonanz“: Zwischen Selbstbild und Realität
Dass ausgerechnet umweltbewusste, junge Menschen für ein Pop-Konzert internationalen Jetset betreiben, ist für die Forschung ein psychologisch aufgeladenes Thema. „Ein Hin- und Rückflug von London nach München in der Economy-Klasse verursacht den Berechnungen von Atmosfair zufolge rund 500 Kilogramm CO₂ pro Person“, erklärt Hiemeyer. „Das sind bereits ein Drittel des gesamten Jahresbudgets, wenn man das 1,5-Grad-Ziel ernst nimmt.“ Viele wüssten das – und flögen trotzdem.
„Viele wüssten das – und flögen trotzdem. Der Widerspruch zwischen Selbstbild und Verhalten ist groß. ”
Der Widerspruch zwischen Selbstbild und Verhalten ist groß. Hiemeyer spricht von „kognitiver Dissonanz“ – einem psychologischen Spannungsfeld, das langfristig zu Stress oder Rückzug führen kann – vor allem, wenn es keine Perspektive auf Veränderung oder Auflösung gibt. „Menschen streben nach Konsistenz zwischen Werten und Handeln“, meint Felix Hiemeyer. Instagram-Feeds sind zwar voll „bewusster“ Alltagspraktiken, zeigen aber ebenso Bilder von Partyreisen um die Welt.
Es reicht langfristig nicht, sich mit Rationalisierungen zu helfen („Nur dieses eine Mal“), und die Widersprüche ins Unbewusste zu verdrängen. Hier brauche es langfristig auch Wege, um sie konstruktiv zu bearbeiten und kollektive wie individuelle Lösungen zu entwickeln, so Hiemeyer.
Vom Konzert zum Sinnbild einer Zeit
Ob Gig-Tripping ein Übergangsphänomen bleibt oder das neue Normal wird, hängt laut Felix Hiemeyer davon ab, wie wir mit besagten Widersprüchen umgehen. Die gute Nachricht: Ein bewussteres Reiseverhalten muss nicht bedeuten, Musik oder Kultur zu entsagen. „Wer Musik und Kultur liebt und gleichzeitig nachhaltig reisen möchte, muss nicht verzichten. Hierzu braucht es ein positiveres Framing, Verzicht ist nicht Verlust“, so Hiemeyer.
„Ein erster Schritt ist, regionale Kulturangebote stärker zu nutzen. Lokale Konzerte, Festivals oder Kulturformate bieten oft ebenso intensive Erlebnisse wie internationale Großevents und stärken zudem die regionale Szene. Wenn dennoch eine weitere Reise gewünscht ist, kann man die Anreise selbst als Teil des Erlebnisses gestalten. Wer mit der Bahn reist, Zwischenstopps einplant und das Tempo entschleunigt, verwandelt den Weg zum Event in ein eigenes Erlebnis. Das verändert auch den Blick auf Mobilität: Nicht das Ziel allein zählt, sondern die gesamte Reise.“
Felix Hiemeyers Fazit: „Unser Umgang mit sozialen Medien und unsere Art, wie wir reisen, sind dabei hintergründig eng miteinander verstrickt. Ich bin überzeugt, dass eine kritische Reflexion beider Bereiche – des Medienkonsums und des Reiseverhaltens – ein Schlüssel zu einem bewussteren und nachhaltigeren Leben bildet.“
Quellen
- Interview mit Felix Hiemeyer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der School of Transformation and Sustainability / Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
- „Gig Tripping” - Warum US-Fans für Swift nach Europa reisen, von Christina Esselborn u. Simon Pfanzelt, ZDF heute vom 30.07.2024
- https://www.tagesanzeiger.ch/fuer-taylor-swift-und-adele-um-die-welt-gig-tripping-lohnt-sich-281539179821
- https://www.alpenair.de/magazin/unkategorisiert/reisetrend-gig-tripping-2025-reisen-zu-konzerten-und-festivals-mit-alpen-air/
- https://www.nzz.ch/reisen/gig-tripper-machen-aus-pop-stars-die-neuen-rockstars-der-reisebranche-ld.1854922
- https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/reise/konzerte-adele-taylor-swift-beyonc-reisen-gig-tripping-e427383/?reduced=true

Felix Hiemeyer
Experte
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der School of Transformation and Sustainability / Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Robert Danch
Autor
Robert Danch studierte Kommunikationswirtschaft und Germanistik. Nach einem Verlagsvolontariat bei der „Süddeutschen Zeitung“ baute er dort den Online-Auftritt der „SZ“ mit auf und war danach in Köln bei DuMont unter anderem für die Online-Redaktionen verantwortlich. Als Fachautor schreibt er über neue Medien und Trends im Gesundheitswesen.